das lesejahr 2023 hat ausserordentlich viele gute bücher hervorgebracht, so dass eine Auswahl schwer fällt.
Ukrainische Literatur 🇺🇦
Graue Bienen *
von Andrey Kurkow, S 448
Der Bienenzüchter Sergej lebt im Donbass, wo ukrainische Kämpfer und prorussische Separatisten Tag für Tag aufeinander schiessen. Er überlebt nach dem Motto: Nichts hören, nichts sehen – sich raushalten. Ihn interessiert nur das Wohlergehen seiner Bienen. Denn während der Mensch für Zerstörung sorgt, herrscht bei ihnen eine weise Ordnung. Eines Frühlings bricht er auf: Er will die Bienen dorthin bringen, wo sie in Ruhe Nektar sammeln können.
Fazit: sehr schön geschriebener Roman, aktuell, braucht Geduld zum Lesen.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Tanners Erde, eine Novelle
von Lukas Maisel, S 128
Ein kleiner Hof im Schweizer Voralpenland. Ein Leben von zeitloser Einfachheit. Doch dann geschieht, was hier noch nie geschah.Dies ist die Geschichte des Bauern Tanner und seiner Frau, die buchstäblich an den Rand ihrer Welt geraten. Ihr Hof mit den paar Kühen wirft gerade genug zum Leben ab. Doch dann tun sich in seinem Land, völlig unerklärlich, zwei riesige, bodenlose Löcher auf. Sind sie Omen, Strafe, Zufall? Tanner will erst keine Hilfe annehmen, er will das Richtige tun und tut deshalb das Falsche. Er muss zusehen, wie sein einfaches, stilles Leben auseinanderfällt. Taghelle Prosa, die an Keller und Kafka erinnert. In präziser und poetischer Sprache erzählt Lukas Maisel von Natur und Gemeinschaft und davon, wie das Unbegreifliche in die Wirklichkeit einbricht – und bleibt.
Fazit: so grandios geschrieben, unbedingt lesen!
Band 1
Schweizer Literatur 🇨🇭
Geh, wilder Knochenmann *
Werner Wyser, S 256
Als der elfjährige Simon am späten Nachmittag des 20. Septembers 1859 aus der Dorfschule ach Hause kommt, ist die Wohnstube des Auenhofs voller Menschen - Mägde, Knechte, Nachbarinnen, Nachbarn. Sie treten zur Seite und öffnen ihm eine Gasse. Der Vater liegt auf dem Tisch. Seine Kleider zerrissen und schmutzig, sein blutverkrustetes Gesicht bleich. Der Roman erzählt die Geschichte dreier Emmentaler Geschwister, die früh ihre Eltern verlieren und damit auch ihr Zuhause, den Auenhof. Esther muss dem neuen Besitzer als Magd dienen, Jakob kommt zu einer Pflegefamilie, und Simon, der Jüngste, der den Hof geerbt hätte, wird verdingt. Doch Simon lässt sich nicht brechen. Er träumt davon, dass er später einmal sein Glück in einem Land jenseits der Berge finden würde. Am 18. Mai 1866 bricht er zusammen mit seinem Bruder in Langnau auf in Richtung Georgien…
Fazit: ein sehr gut geschriebener Roman über die Problematik der Verdingkinder in der Schweiz. Im Roman kommen etwas viele Unglücke vor. Trotzdem zeigt der Roman deutlich wie es in vergangenen Zeit so zu und her ging. Sehr traurig. Ich sehe das Emmental mit anderen Augen.
Band 2
Schweizer Literatur 🇨🇭
Die grusinische Braut *
von Werner Ryser, S 256
Im August 1866, rund drei Monate nachdem er im Emmental aufgebrochen ist, erreicht der achtzehnjahrige Simon Grusinien, wie die Russen Georgien nannten. Er, der früh seine Eltern verlor, um sein Erbe betrogen und verdingt wurde, mochte in diesem wilden, weiten Land seinen Traum verwirk-lichen: Besitzer eines grossen Guts werden, Kinder zeugen und mit ihnen ein neues Geschlecht von angesehenen Bauern gründen. Werner Ryser nimmt uns in seinem Folgeroman zu "Geh, wilder Knochenmann!“ mit aufs Gut Eben-Ezer, wo Simon als Senn arbeitet: Zum Gutsbesitzer Baron von Fenzlau, der im Dienst des Zaren eine grosse Schuld auf sich geladen hat. Zu Thilde, die allen Männern den Kopf verdreht. Zu Mayranoush, der guten Seele auf dem Hof. Zu Sophie, Thildes Tochter, die nicht wissen darf, wer ihr Vater ist. Und natürlich zu Simon, dem Wortkargen, der nicht weiss, wie man eine Frau um ihre Hand bittet...
Fazit: auch der 2. Band von Werner Rysers kaukasischer Tetralogie gefällt mir ausserordentlich gut. Auf den ersten 50 Seiten wird etwas viel und ausführlich vom Krieg geschrieben. Ist aber nötig um die historischen Ereignisse zu verstehen.
Band 3
Schweizer Literatur 🇨🇭
Kaukasische Symphonie *
Werner Wyser, S 358
Werner Ryser erzählt die Geschichte von Simon, dem Emmentaler Auswanderer, der seinen Traum, in Grusinien Grossbauer zu werden, verwirklicht hat, und von Sophie, seiner Frau, die mit einem Fuss in der diesseitigen und mit dem andern in der jenseitigen Welt lebt. Sie haben drei Söhne, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Karl, den Arzt, der sich gegen die Ungerechtigkeiten der ständischen Gesellschaft im Zarenreich empört, Hannes, den Bauern, der einmal das elterliche Gut Eben-Ezer erben wird, sowie Jakob, den begnadeten Musiker, der mit seiner «Kaukasischen Sinfonie» seiner Seele ein Haus baut. «Kaukasische Sinfonie» ist der dritte Band einer Familiensaga, die mit den Romanen «Geh, wilder Knochenmann!» und «Die grusinische Braut» begonnen hat. Der Roman spielt vor dem Hintergrund weltgeschichtlicher Ereignisse: des Grossen Kriegs von 1914/18 und der Russischen Revolution, die das Schicksal der Menschen im kleinen Land zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer prägen.
Fazit: auch der 3. Band hat mich tief berührt. Ich finde die Beschreibungen über Musik, Gefühle, Krieg, Gräueltaten und Tod einmalig gut.
Band 4
Schweizer Literatur 🇨🇭
Windhauch, das ist alles Windhauch *
von Werner Wyser, S 272
«Jetzt kehre ich als Bettler dorthin zurück, wo man Vater um sein Erbe betrogen hat.» Am 18. Juli 1930 verlässt Hannes mit seiner Familie Georgien, das Land, in dem er geboren wurde. Simon, sein Vater, war 1866 in Langnau im Emmental aufgebrochen, um in Grusinien, wie die Russen Georgien nannten, seinen Traum zu verwirklichen: ein Geschlecht von angesehenen Bauern zu gründen. Als Simon 1918 starb, hinterliess er Hannes einen Gutshof mit mehr als tausend Kühen. Doch nach dem Einmarsch der Roten Armee und der Machtübernahme der Bolschewiki in Transkaukasien verliert die Familie ihren ganzen Besitz. Die Schweizer Auswanderer dürfen nicht mehr mitnehmen, als in einem Koffer Platz hat. Und sie haben noch Glück: Die deutschen Kolonisten werden deportiert – viele von ihnen verlieren in Sibirien ihr Leben. Der letzte Band von Werner Rysers kaukasischer Tetralogie hat beklemmende Parallelen zu aktuellen Ereignissen auf der Welt. Es scheint, als wiederhole sich die Geschichte. Immer wieder. Fazit: auch der letzte Band hat mich voll begeistert. Es kommen einige Zusammenfassungen der vorhergehenden Bücher vor, was für eine gute Verständlichkeit gut ist.
Deutsche Literatur 🇩🇪
Der Apfelbaum *
von Christian Berkel, S 416
Jahrelang bin ich vor meiner Geschichte davongelaufen. Dann erfand ich sie neu.
Für den Roman seiner Familie hat der Schauspieler Christian Berkel seinen Wurzeln nachgespürt. Er hat Archive besucht, Briefwechsel gelesen und Reisen unternommen.Entstanden ist ein grosser Familien-roman vor dem Hintergrund eines ganzen Jahrhunderts deut-scher Geschichte, die Erzählung einer ungewöhnlichen Liebe.
Berlin 1932: Sala und Otto sind dreizehn und siebzehn Jahre alt, als sie sich ineinander verlieben. Er stammt aus der Arbeiterklasse, sie aus einer intellektuellen jüdischen Familie. 1938 muss Sala ihre deutsche Heimat verlassen, kommt bei ihrer jüdischen Tante in Paris unter, bis die Deutschen in Frankreich einmarschieren. Während Otto als Sanitätsarzt mit der Wehrmacht in den Krieg zieht, wird Sala bei einem Fluchtversuch verraten und in einem Lager in den Pyrenäen interniert. Dort stirbt man schnell an Hunger oder Seuchen, wer bis 1943 überlebt, wird nach Auschwitz deportiert. Sala hat Glück, sie wird in einen Zug nach Leipzig gesetzt und taucht unter.
Kurz vor Kriegsende gerät Otto in russische Gefangenschaft, aus der er 1950 in das zerstörte Berlin zurückkehrt. Auch für Sala beginnt mit dem Frieden eine Odyssee, die sie bis nach Buenos Aires führt. Dort versucht sie, sich ein neues Leben aufzubauen, scheitert und kehrt zurück. Zehn Jahre lang haben sie einander nicht gesehen. Aber als Sala Ottos Namen im Telefonbuch sieht, weiss sie, dass sie ihn nie vergessen hat.
Mit grosser Eleganz erzählt Christian Berkel den spannungsreichen Roman seiner Familie. Er führt über drei Generationen von Ascona, Berlin, Paris, Gurs und Moskau bis nach Buenos Aires. Am Ende steht die Geschichte zweier Liebender, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch ihr Leben lang nicht voneinander lassen.
Fazit: wunderbar und spannend geschrieben.
Französische Literatur 🇫🇷
Der junge Mann *
von Annie Ernaux, S 48
Sie ist Mitte fünfzig und beginnt ein Verhältnis mit einem dreissig Jahre jüngeren Mann. Einem Studenten, noch dem Milieu verhaftet, aus dem sie sich emanzipiert zu haben glaubt. Er verlässt die gleichaltrige Freundin und liebt sie mit einer Leidenschaft wie keiner zuvor. Entrückte Tage und Nächte in seinem kargen Zimmer, Matratze auf dem Boden, löchrige Wände, defekter Kühlschrank. Doch die intime Episode ist zugleich etwas Politisches, auf der Strasse, in den Restaurants und Bars: fast ständig böse Blicke, wütende Reaktionen. Sie ist wieder das »skandalöse Mädchen« ihrer Jugend, nun aber ganz ohne Scham, mit einem Gefühl der Befreiung. Irgendwann erträgt er ihre frühere Schönheit nicht mehr, und sie erlebt bloss noch Wiederholung, obwohl er »ihr Engel ist, der die Vergangenheit heraufbeschwört, sie ewig leben lässt«. Und was heisst das für die Zukunft? Annie Ernaux bricht ihr letztes Tabu – radikal pointiert und prägnant erzählt sie von einer skandalösen Liebesbeziehung, einer ambivalenten Rückkehr in die eigene Vergangenheit und der triumphalen Überwindung einer lebenslangen Scham.
Österreichische Literatur 🇦🇹
Das glückliche Geheimnis
von Arno Geiger, S 240
Von Anläufen und Enttäuschungen, vom Finden und Wegwerfen. Und vom Glück des Gelingens. Das neue Buch von Arno Geiger. Frühmorgens bricht ein junger Mann mit dem Fahrrad in die Strassen der Stadt auf. Was er dort tut, bleibt sein Geheimnis. Zerschunden und müde kehrt er zurück. Und oft ist er glücklich. Jahrzehntelang hat Arno Geiger ein Doppelleben geführt. Jetzt erzählt er davon, pointiert, auch voller Witz und mit grosser Offenheit. Wie er Dinge tat, die andere unterlassen. Wie gewunden, schmerzhaft und überraschend Lebenswege sein können, auch der Weg zur grossen Liebe. Wie er als Schriftsteller gegen eine Mauer rannte, bevor der Erfolg kam. Und von der wachsenden Sorge um die Eltern. Ein Buch voller Lebens- und Strassenerfahrung, voller Menschenkenntnis, Liebe und Trauer.
Fazit:ein unerhört gutes Buch!
Amerikanischer Krimi 🇬🇧
Going Zero *
von Anthony McCarten, S 464
Hat man als Einzelner überhaupt eine Chance gegen das System? Eine junge Bibliothekarin aus Boston ist entschlossen, es zu versuchen – ihr bleibt keine Wahl. Und so greift sie zu, als sich die Einladung zu einem ungewöhnlichen Kräftemessen bietet: dem Betatest von FUSION, einem Projekt der US-Geheim-dienste und des Social-Media-Moguls Cy Baxter. Wem es gelingt, 30 Tage unauffindbar zu bleiben, dem winken 3 Millionen Dollar. Doch Kaitlyn geht es um etwas anderes.
Fazit: toll geschriebener Krimi, sehr spannend und intelligent komponiert.
Deutsche Literatur 🇩🇪
Die Jungfrau
von Monika Helfer, S 152,
Zwei Jugendfreundinnen die eine reich, die andere arm. Nach einem halben Jahrhundert begegnen sie sich wieder. Der neue Roman von Monika Helfer. Gloria und Moni sind beste Jugendfreundinnen die eine reich, die andere arm. Ein halbes Jahrhundert später begegnen sich die beiden Frauen wieder und Gloria beichtet ihr Lebensgeheimnis: Nie hat sie mit jemandem geschlafen. Früher kam Gloria immer gut an, war exzentrisch und schön, wollte Schauspielerin werden, war viel unter Menschen. Gloria und Moni wachsen auf im Mief der sechziger Jahre, sind konfrontiert mit Ehe, Enge und Gewalt. Wie wurden die beiden zu denen, die sie sind? Monika Helfer macht aus Lebenserinnerung große Literatur. Nach der Trilogie über ihre Familie und Herkunft ist Die Jungfrau ein atemloser Roman über die jahrzehntelange Freundschaft zwischen zwei Frauen.
Fazit: wunderbare Geschichte, so ein schöner Erzählstil.
Irische Literatur 🇮🇪
Das dritte Licht
von Claire Keegan, S 104
Irland, zu Beginn der 1980er Jahre: An einem heissen Sommertag liefert ein Vater seine kleine Tochter bei entfernten Verwandten auf einer Farm im tiefsten Wexford ab. Seine Frau ist schon wieder schwanger, noch ein Maul wird zu stopfen sein. So findet sich das Mädchen bei dem kinderlosen Ehepaar John und Edna Kinsella wieder. An einem ungewohnt schönen und behaglichen Ort, wo es Milch und Rhabarber und Zuwendung im Überfluss gibt. Aber auch ein trauriges Geheimnis, das einen Schatten auf die leuchtend leichten Tage wirft, in denen das Mädchen lernt, was Familie bedeuten kann. Das dritte Licht (»Foster«) wurde mit dem renommierten Davy Byrnes Award ausgezeichnet und in Irland als The Quiet Girl, ebenfalls preisgekrönt, verfilmt. Nun ist diese meisterhaft komponierte Geschichte über wirkliches Zusammenleben, Zuneigung und Zärtlichkeit endlich wieder in der deutschen Übersetzung von Hans-Christian Oeser bei Steidl erhältlich – in einer neuen, von der Autorin überarbeiteten Fassung.
Fazit: kleines feines Buch, unbedingt lesen.
Deutsche Literatur 🇩🇪
22 Bahnen
von Caroline Wahl, S 204
Tildas Tage sind strikt durchgetaktet: studieren, an der Supermarktkasse sitzen, sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern – und an schlechten Tagen auch um die Mutter. Zu dritt wohnen sie im traurigsten Haus der Fröhlichstrasse in einer Kleinstadt, die Tilda hasst. Ihre Freunde sind längst weg, leben in Amsterdam oder Berlin, nur Tilda ist geblieben. Denn irgendjemand muss für Ida da sein, Geld verdienen, die Verantwortung tragen. Nennenswerte Väter gibt es keine, die Mutter ist alkoholabhängig. Eines Tages aber geraten die Dinge in Bewegung: Tilda bekommt eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, und es blitzt eine Zukunft auf, die Freiheit verspricht. Und Viktor taucht auf, der grosse Bruder von Ivan, mit dem Tilda früher befreundet war. Viktor, der – genau wie sie – immer 22 Bahnen schwimmt. Doch als Tilda schon beinahe glaubt, es könnte alles gut werden, gerät die Situation zu Hause vollends ausser Kontrolle. ›22 Bahnen‹ ist eine raue und gleichzeitig zärtliche Geschichte über die Verheerungen des Familienlebens und darüber, wie das Glück zu finden ist zwischen Verantwortung und Freiheit.
Fazit: dieser Roman fand ich ein Hit, trauriges Thema aber gar nicht traurig geschrieben.