das lesejahr 2023 hat ausserordentlich viele gute bücher hervorgebracht, so dass eine Auswahl schwer fällt.
Französische Literatur 🇫🇷
Die Postkarte *
von Anne Berest, S 544
Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz ermordet wurden; ohne Absender, ohne Unterschrift. Anne fragt nach und die Mutter erzählt ihr die tragische Geschichte der Familie Rabinovitch. Aber erst als ihre kleine Tochter in der Schule Antisemitismus erfährt, beschliesst Anne, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen. Mithilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen recherchiert sie in alle erdenklichen Richtungen. Das Ergebnis ist dieser Ausnahmeroman. Er zeichnet nicht nur den ungewöhnlichen Weg der Familie nach, sondern fragt auch, ob es gelingen kann, in unserer Zeit als Jüdin ein »ganz normales« Leben zu führen. Anne Berest geht dem Schicksal ihrer eigenen Familie nach – und landete damit einen preisgekrönten literarischen Coup, der seit Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht.
Fazit: ich habe schon viele Bücher über den Holocaust gelesen, aber noch keines wie diesen Schmöker. Brilliant komponiert und spannend wie ein Krimi. Lesenswert und ein Muss für Jung und Alt.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Martha und die Ihren
von Lukas Hartmann, S 304
Martha ist eine beeindruckende Frau, die es aus ärmsten Verhältnissen zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat. Aber die Erinnerung an die Entbehrungen ihrer Kindheit als »Verdingkind« bei einer Bauernfamilie im Berner Umland lässt sie nie los: Keine Schwäche zeigen. Arbeiten ohne Unterlass. Hart sein zu sich und anderen. Das prägt auch ihre Söhne, die es in der Nachkriegszeit unbedingt zu etwas bringen wollen. Und ihre Enkel, die dagegen rebellieren und es erstmals wagen, sich ein anderes, ein freieres Leben zu erträumen.
Fazit: ein ganz besonderer, autobiographisch geprägter Roman, der sich lohnt zu lesen. Wer wissen möchte woher wir kommen und wer wir sind, muss dieses Buch lesen.
Deutsche Literatur 🇩🇪
Der Trost der Schönheit *
von Gabriele von Arnim, S 224
Trost finden. In einer Welt, die so überwältigend, ängstigend, fordernd sein kann. Trost finden im Empfinden von Schönheit, weil das, so Gabriele von Arnim, nicht weniger ist als Selbsterhalt. «Ich brauche Schönheit. Den Trost der Schönheit. Denn wenn ich Schönheit sehe, höre, lese, spüre, dann glaube ich an Möglichkeiten. An Wege, Räume, Purzelbäume.»
Der Trost der Schönheit ist eine schillernde Verbindung aus autobiografischem und essayistischem Erzählen: keine Kulturgeschichte, die ihren Gegenstand mit Theorie einhegen will, sondern eine literarische Spurensuche. Gabriele von Arnim fragt nach den Formen und Wirkungen dessen, was wir schön nennen; nach dem Glück und den dunklen Seiten der Empfindsamkeit. Die Suche führt zurück in die Kindheit, zu einem Mädchen aus kühl geführtem Haus, das erst lernen muss, zu fühlen, um Schönheit – einen tröstlichen Moment lang – in all ihrer endlichen Fülle wahrnehmen zu können. Nach dem Spiegel-Bestseller "Das Leben ist ein vorübergehender Zustand" ein neuer bewegender Bericht aus dem Innern. Ein Buch, das den Blick weitet für die Welt um uns und ihre Vergänglichkeit, das Mut macht zum Aushalten von Ambivalenz. Fazit: ein Buch das man gelesen haben muss. Versöhnlich und tröstend.
Irische Literatur 🇮🇪
Das Lied des Propheten *
von Paul Lynch, S 320
»Wenn es so etwas wie ein zentrales Buch für unsere Zeit gibt, dann ist es dieses. Brillant und Eindringlich« The Observer. An einem regennassen Abend in Dublin öffnet die Wissenschaftlerin und vierfache Mutter Eilish Stack ihre Haustüre und steht zwei Beamten der neu gegründeten irischen Geheimpolizei gegenüber. Sie sind gekommen, um ihren Mann Larry, einen bekannten Gewerkschafter, zu verhören. Kurz nach dieser Begegnung verschwindet Larry, und sehr schnell beginnen die Dinge in Eilishs Welt aus dem Ruder zu laufen.Irland befindet sich in der Gewalt einer Regierung, die auf dem Weg in die Tyrannei ist. Eilish findet sich in der alptraumhaften Logik einer kollabierenden Gesellschaft wieder, angegriffen von unsichtbaren Kräften, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Sie ist gezwungen, alles zu tun, um ihre Familie zu schützen und alle zusammenzuhalten. Wie soll sie ihren Kindern erklären, was passiert ist, wenn sie nach dem Vater fragen? Wie wird ihr eigener zunehmend dementer Vater auf die gravierenden Veränderungen seines Alltags reagieren? Und wie weit wird Eilish selbst gehen, um sich und ihre Familie zu retten? »Das Lied des Propheten« ist ein atemloses Porträt einer Familie am Rande der Katastrophe, das stilistisch und emotional seinesgleichen sucht. Paul Lynchs meisterhafter Roman ist das Buch der Stunde – und ein Appell, die entstehenden autoritären Regime der Gegenwart zu bekämpfen.
Fazit: ich habe noch nie, Kriegsgeschehen, so hautnah, aufwühlend und persönlich beschrieben bekommen. Das tut richtig weh. Ein wichtiges Buch, das in einem fiktiven Umfeld erzählt, wie schnell sich eine Diktatur etabliert. Ich kann keine Buchempfehlung abgeben, da muss jeder selber entscheiden, will er sich mit diesem Thema auseinandersetzten.
Französische Literatur 🇫🇷
Eine Arbeiterin
von Didier Eribon, S 272
»Das ist also das Leben meiner Mutter gewesen, dachte ich, das Leben und das Alter einer Arbeiterin. Noch wusste ich nicht, dass ich dieser Aufzählung bald ein drittes Wort würde hinzufügen müssen.« Eigentlich hatte Didier Eribon sich vorgenommen, ab jetzt regelmässig nach Fismes zu fahren. Doch seine Mutter stirbt wenige Wochen nach ihrem Umzug in ein Pflegeheim in dem kleinen Ort in der Champagne. Wie in Rückkehr nach Reims, wird dieser Einschnitt zum Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit. Eribon rekonstruiert die von Knappheit und Zwängen bestimmte Biografie einer Frau, die an einen brutalen Ehemann gekettet blieb und sich sogar in ihren Träumen bescheiden musste. »Meine Mutter«, hält er fest, »war ihr ganzes Leben lang unglücklich.«
Didier Eribons neues Buch ist hochpolitisch: Er legt schonungslos dar, wie sehr die Politik, aber auch die Philosophie, ja wir alle die skandalöse Situation vieler alter Menschen lange verdrängt haben. Zugleich erweist er sich erneut als grosser Erzähler: Anhand suggestiver Episoden und berührender Erinnerungen zeigt er, wie wichtig Familie und Herkunft für unsere Identität sind. Er kauft ein Dialekt-Wörterbuch, um noch einmal die Stimme seiner Mutter im Ohr zu haben. So entfaltet der Soziologe das Porträt einer untergegangenen Welt: des Milieus der französischen Arbeiterklasse – mit ihren Sorgen, ihrer Solidarität, ihren Vorurteilen.
Fazit: ein Muss zu Lesen, ein glänzend erzähltes und ergreifendes Buch. Es erschafft einen Raum für Nachdenklichkeit und Trauer und für die grosse Frage, wie man in Gesellschaften wie der unseren mit Alter und Sterben umgeht.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Seinetwegen *
von Zora del Buono, S 204
Zora del Buono war acht Monate alt, als ihr Vater 1963 bei einem Autounfall starb. Der tote Vater war die grosse Leerstelle der Familie. Mutter und Tochter sprachen kaum über ihn. Wenn die Mutter ihn erwähnte, brach die Tochter mit klopfendem Herzen das Gespräch ab. Sie konnte den Schmerz der Mutter nicht ertragen. Jetzt, inzwischen sechzig geworden, fragt sie sich: Was ist aus dem damals erst 28-jährigen E.T. geworden, der den Unfall verursacht hat? Wie hat er die letzten sechzig Jahre gelebt mit dieser Schuld?
"Seinetwegen" ist der Roman einer Recherche: Die Erzählerin macht sich auf die Suche nach E.T., um ihn mit der Geschichte ihrer Familie zu konfrontieren. Ihre Suche führt sie in dunkle, abgründige Gegenden, in denen sie Antworten findet, die neue Fragen aufwerfen. Was macht es mit ihr, dass sie plötzlich mehr weiss über ihn, den Mann, der ihren Vater totgefahren hat, als über den Vater selbst? Und wie kann man heil werden, wenn eine Leerstelle doch immer bleiben wird?
Fazit: sehr schön geschriebener Roman, in einer speziellen Form, eigentlich fast wie im Selbstgespräch geschrieben. Lohnt sich auf jeden Fall zu lesen.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Wendeschleife
von Regula Portillo, S 208
Anna arbeitet in einem Altenpflegeheim, reist gern und stellt anderen Reisenden regelmäßig ihr Sofa als Übernachtungsgelegenheit zur Verfügung. Einer ihrer Gäste ist Oliver, ein junger US-Amerikaner, der mit einem Interrail-Ticket in Europa unterwegs ist. Die beiden verstehen sich auf Anhieb gut er besucht sie an ihrem Arbeitsplatz und lernt auch ihren Freundeskreis kennen. Für ein paar Tage taucht er in ihre Welt ein. Doch dann kehrt er von einem Ausflug nach Zermatt nicht mehr zurück. Die Tage verstreichen ohne eine erlösende Nachricht und Annas Sorge um ihn wächst. Was ist geschehen? Anna entschließt sich dazu, Oliver bei der Polizei als vermisst zu melden. Doch die quälenden Gedanken an ihn lassen sie und die anderen Menschen, die ihn vermissen, nicht mehr los. Eine Suche beginnt, die existentielle Fragen aufwirft, denen Anna auch bei ihrer Arbeit immer wieder begegnet. Worauf steuern wir alle zu? Was macht ein erfülltes Leben und würdevolles Sterben aus? Findet das Leben hauptsächlich in den Geschichten statt, die wir uns darüber erzählen? Antworten findet Anna in den Gesprächen mit der blinden Frau Steinbach und den anderen Bewohnenden, deren Lebenserfahrung sie als große Bereicherung erlebt. Im Austausch mit Caroline, Olivers Mutter, und Samuel, einem gemeinsamen Bekannten, kommt Anna Oliver immer näher und setzt nach und nach das Bild eines Menschen zusammen, den sie vor allem aus Erzählungen kennt. Wendeschleife ist ein lebensbejahender Roman, der aufzeigt, wie scheinbare Zufälligkeiten das Leben jäh verändern und in den schwersten Momenten unverhofft neue Freundschaften und tiefe Verbundenheit entstehen können.
Fazit:unbedingt lesen, so klar und schön geschrieben. Auch die anderen Bücher der Autorin sind zu empfehlen. Lesen sie Schweizer Autoren/innen.
Amerikanische Literatur 🇬🇧
Baumgartner *
von Paul Auster, S 208
Der neue Roman von Paul Auster nach seinem grossen Bestseller «4321» – ein weises Buch über die Liebe und eine Mut machende, tröstliche Betrachtung der letzten Lebensjahre, die sich der Endlichkeit alles Irdischen stoisch bewusst ist. Professor Seymour T. Baumgartner, unter Freunden Sy, ist ein über siebzigjähriger emeritierter Phänomenologe aus Princeton, der sich dem Schreiben philosophischer Bücher und, zunehmend, seinen Jugendremi-niszenzen widmet: seiner kleinbürgerlichen Herkunft aus Newark; der schwierigen Ehe der Eltern, dem Collegebesuch und einem Studienaufenthalt in Paris; schliesslich der wie ein Blitz einschlagenden Liebe zur Übersetzerin und Dichterin Anna, mit der er die glücklichsten Jahre verbrachte, bevor sie vor zehn Jahren einem Badeunfall zum Opfer fiel.Annas Tod hat ein tiefes Loch in seinem Leben hinterlassen, das aller Pragmatismus, alle Selbstironie nicht füllen kann. Denn Anna war wirklich das, was man seine bessere Hälfte nennt. Eines Tages, um sich zu trösten, wagt Sy sich endlich in ihr Arbeitszimmer, das er seit ihrem Tod nicht betreten hat.
Fazit: wunderschön geschrieben, so wie das Alter eben daher kommt, mit Aufs und Abs im Leben, etwas melancholisch und langsam geschrieben. Lesenswert!