empfehlungen 2022
schweizer autoren
Schweizer Literatur 🇨🇭
Mit einem Fuss draussen
von Anaïs Meier, 128 S
In einer mittelgrossen Schweizer Stadt lauert einer im Schilf. Es ist Gerhard, selbsternannter Kommissär, schrulliger Protagonist und eigenwilliger Erzähler in Anaïs Meiers Debüt-roman. Im See des Parks, in dem er jeden Morgen und jeden Abend seinen „Flamingo“ macht, um Kontakt zum Universum herzustellen, sieht er einen Fuss. Gerhard, der einsiedlerisch am Rande der Gesellschaft lebt, will den Frieden im Park wieder herstellen und macht sich auf, um diesen Kriminalfall zu lösen. Dabei kommt es zu Kontakten mit der Aussenwelt: Er trifft auf biertrinkende Angelfischer mit ihrem Vereins-präsidenten Krückenpatrick, eine dauerbekiffte Jugendgang, nachtwandernde Hundehalterinnen, einen schmierigen Lokalreporter und die Parkwächterin Blüehler, die gar nicht so schlimm ist wie anfangs gedacht. Sie alle haben wie Gerhard weder Geld noch Perspektiven, aber sie haben den Park: Und der bedeutet ihnen die Welt
Schweizer Literatur 🇨🇭
Sieben Jahre mit dem Japaner
von Christine Rinderknecht, 320 S
Was wissen wir über uns selbst, über einander, über die stimmlosen Dinge, die uns begleiten? Was kann über einen Menschen nach langer Zeit herausgefunden, gesagt, gezeigt werden, was bleibt für immer im Dunkeln? Am Anfang steht ein goldenes Kästchen, ein sogenanntes Takamakie-Lackkästchen. In den frühen Tagen des 20. Jahrhunderts in einem kleinen Geschäft in Kyoto erworben, wird es zusammen mit diversen Bücherkisten, gesammelten Kunstgegenständen und der Garderobe seines Besitzers eingeschifft und gelangt auf dem Seeweg nach Antwerpen, von dort weiter in ein kleines Dorf im Schweizer Fricktal, wo es auf einem staubigen Dachboden landet. Einige Jahrzehnte später steht es auf der Frisierkommode einer jung verheirateten Frau, wo es die Neugier eines kleinen Mädchens weckt. Das Mädchen wird zur Frau, die Frau macht sich, wieder Jahrzehnte später, daran, seine Geschichte zu erzählen. Wieder reist sie durch die Jahrhunderte, nur diesmal in umgekehrter Richtung, reist nach Paris, Rouen, Moskau und kommt schliesslich in Kyoto an. Sie sucht die Strassen, durch die ihr Grossonkel Wilhelm, der Besitzer des Kästchens, noch mit der Rikscha fuhr. Sucht seine verhallenen Schritte, seine vermuteten Gedanken, erschliesst seine Beweggründe. Was sie findet, bleibt bruchstückhaft, wird fassbar und entzieht sich wieder. Doch jedes einzelne Dokument und jede zufällige Begegnung sind prall gefüllt mit Leben.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Ein Leben lang
von Christoph Poschenrieder, S 304
Sie kennen sich seit der Kindheit und beginnen gerade, ihre eigenen Wege zu gehen, als plötzlich einer von ihnen als Mörder festgenommen wird. Er soll seinen Onkel aus Habgier erschlagen haben. In einem schier endlosen Indizienprozess wird das Unterste zuoberst gekehrt. Die Freunde kämpfen für den Angeklagten, denn er kann, er darf kein Mörder sein. Doch als 15 Jahre nach dem Urteil eine Journalistin sich der Sache noch mal annimmt, stellt sich die Frage der Loyalität wieder neu.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Cristina
von Eleonore Frey, S 168
Eleonore Frey erzählt in "Cristina" die Geschichte einer jungen Frau, fast noch ein Mädchen, das durch die erste Liebe schwanger wird. Sie darf ihr Kind nicht behalten, die Mutter und die Kirche nehmen es ihr weg. Cristina wird Hebamme werden, sie wird Kinder zur Welt bringen helfen und eine späte Liebe finden - aber die Suche nach dem eigenen Kind wird nie aufhören.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Sein Sohn
von Charles Lewinsky, S 368
Louis Chabos wächst in einem Kinderheim in Mailand auf. Nachdem er in Napoleons Russlandfeldzug den Krieg kennengelernt hat, möchte er nur noch eins: endlich zu einem menschenwürdigen Leben finden und Teil einer Familie werden. In Graubünden erlangt er ein kleines Stück des erhofften Glücks. Doch das verspielt er, als die Sehnsucht nach dem unbekannten Vater ihn nach Paris ruft und er zwischen Prunk und Schmutz seine Bestimmung sucht.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Ein simpler Eingriff
von Yael Inokai, S 192
Meret ist Krankenschwester. Die Klinik ist ihr Zuhause, ihre Uniform trägt sie mit Stolz, schliesslich kennt die Menschen in ihrem Leiden niemand so gut wie sie. Bis eines Tages ein neuartiger Eingriff entwickelt wird, der vor allem Frauen von psychischen Leiden befreien soll. Die Nachwirkungen des Eingriffs können schmerzhaft sein, aber danach fängt die Heilung an. Daran hält Meret fest, auch wenn ihr langsam erste Zweifel kommen. „Ein simpler Eingriff“ ist nicht nur die Geschichte einer jungen Frau, die in einer Welt starrer Hierarchien und entmenschlichter Patientinnen ihren Glauben an die Macht der Medizin verliert. Es ist auch die intensive Heraufbeschwörung einer Liebe mit ganz eigenen Gesetzen. Denn Meret verliebt sich in eine andere Krankenschwester. Und überschreitet damit eine unsichtbare Grenze.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Die Blutbuche
von Kim de l’Horizon, S 336
Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2022. Die Erzählfigur in Blutbuch identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie. Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l'Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Doppelleben
von Alain Claude Sulzer, S 304
Ein grandioser Roman über die letzten Jahre der zwillingsgleich lebenden Brüder Goncourt und das Doppelleben ihrer Haushälterin, inmitten von Glanz und Elend im Paris zu Zeiten Napoleons III. Der Roman nimmt uns mit zu Jules und Edmond de Goncourt, die alles teilten: das Haus, die Gedanken, die Arbeit, die Geliebte. Zu zweit gingen sie zum Treffen mit Flaubert, Zola und anderen Künstlern ins Palais der Cousine des Kaisers, in Ausstellungen und zu Restaurantbesuchen mit Freunden und Bekannten. Und danach lästerten sie ab über alle, die sie getroffen hatten, im geheimen Tagebuch, das sie gemeinsam führten. Berühmt-berüchtigt waren sie für ihren Blick, dem angeblich nichts entging, und ihre spitze Feder, die alles notierte. Bis Jules unheilbar erkrankte … Und der Roman nimmt uns mit in die Gegenwelt: zu Rose, ihrer Haushälterin, die zum Hausstand gehört wie ein Möbelstück. Die unbemerkt von den Brüdern existenzielle Dramen durchlebt, sich hoffnungslos in den Falschen verliebt und von ihm schamlos ausgenutzt wird, die ein Kind austrägt, ohne dass die Brüder es bemerken, es gebiert, liebt und später auch verliert; die Trinkerin wird und ihre Dienstherrn hintergeht und bestiehlt, ohne dass diese es merken. Bis sie stirbt und den Brüdern ein Licht aufgeht .
Schweizer Literatur 🇨🇭
Meine Schwiegermutter, der Mondmann und ich
von Brigitte Helbling, S 224
Selbstzweifel stürzt. 60 Jahre später finden sich die Aufzeichnungen unter ihren nachgelassenen Papieren in ihrer Zürcher Wohnung. Und die Erzählerin erinnert sich an die Worte der
Schwiegermutter: »Du könntest doch auch einmal ein Buch über mich schreiben.« So beginnt dieser Roman mit den ersten Zeilen aus den Aufzeichnungen der Schwiegermutter, an ihrem 22. Geburtstag:
»Seit einigen Wochen stecke ich in einem ganz verzwickten Dilemma und will nun versuchen, durch die Niederschrift dieser Geschichte einige Klarheit über mich selbst zu erhalten.«
Verbunden mit der Geschichte der Erzählerin (und dem Mondmann) ist auch der »persönliche Lebensbericht« ihres Vorfahren Hans Conrad Escher, Ingenieur und Erbauer des Linthkanals. In seiner
Lebensrückschau für die Kinder schildert der Zürcher Bürgerssohn anhand eigener Erfahrungen eindringlich, wie ein Liebeswerben gelingen – und wie es an den Abgrund führen kann. »Soll ich
fliehen?«, fragt er sich kurz vor der Eheschliessung. Die »innige Freundschaft« zu seiner Braut hält ihn davon ab. Doch die »Launen und Leidenschaftlichkeit« der jungen Frau stellen ihn vor
ungeahnte Herausforderungen. Glaubt man ihm, wenn er am Ende feststellt, es habe sich alles »recht planmässig« entwickelt?
Dieser ganz speziell komponierte Roman zieht einen hinein in Liebesgeschichten aus zwei Jahrhunderten und bedient eine gewisse Sehnsucht – nach einer vergangenen, vermeintlich einfacheren
bürgerlichen Welt –, dessen Prämissen die Geschlechterverhältnisse radikal infrage stellt. Dabei gelingt es Brigitte Helbling, die Schicksale und das historische Material zu einem wunderbaren,
packenden, literarischen Text zu verweben.
Schweizer Literatur 🇨🇭
Steine zählen
von Thomas Röthlisberger, S 176
Südfinnland: Henrik Nyström, der lokale Polizeibeamte, fährt hinaus zu einer Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees. Auf der Polizeistelle ist ein Anruf eingegangen, der alte Matti Nieminen
habe auf seine Frau Märta geschossen, die ihn nach vierzig Jahren Ehe verlassen wolle. Auch Olli, der Sohn der Nieminens, ist auf dem Weg zum Elternhaus, weil er wieder einmal in Geldnöten steckt
und sich einen Zuschuss der Mutter erhofft. Als der Polizeibeamte auf dem Hof eintrifft, findet er den alten Matti auf dem Schotterplatz vor dem Haus in einer Blutlache liegend. Aber Nieminen ist
nicht tot. Und die Schusswunde scheint er sich selbst beigebracht zu haben. Was war hier vorgefallen? War Olli bereits hier gewesen, dem Nyström auf der Herfahrt begegnet war, oder hatte Arto die
Finger im Spiel, der Schwager, den Matti tödlich hasst? Oder gar Pekka, der frühere Liebhaber von Märta, der seit Jahren als verschollen gilt?
Ein tiefgründiger Roman über das Menschliche und das Unmenschliche, die oft so nahe beieinanderliegen, dass die Grenze erst erkennbar wird, wenn es zu spät ist.
Schweizer Literatur
Spurlos in Neapel 🇨🇭
Von Franco Supino, S 256
Was wäre in Neapel aus ihm geworden, in der Stadt seiner Eltern? Als Kind plagte ihn die Angst, die Schweiz und alle seine Freunde verlassen zu müssen. Darum war es für ihn wie eine Befreiung, als 1980 in Süditalien die Erde bebte und innerhalb von neunzig Sekunden die Rückkehrpläne der Eltern in Schutt und Asche lagen. Nach dem Tod des Vaters, viele Jahre später, begibt sich der Erzähler auf Spurensuche nach Neapel, eine Stadt, deren Sprache er spricht, deren Gesetze ihm aber fremd sind. Auf einer Restaurantterrasse mit Blick auf den Golf von Neapel hört er zum ersten Mal den Namen Antonio Esposito. Ein Allerweltsname, aber dieser Antonio Esposito ist anders, ist ein gestohlenes Migrantenkind aus Westafrika, das in einen Camorra-Clan aufgenommen wurde, eine kriminelle Karriere machte und dann spurlos verschwand. Das mögliche Schicksal des schwarzen Camorrista lässt den Erzähler nicht mehr los. Immer wieder kehrt er nach Neapel zurück, sieht sein verpasstes Leben mehr und mehr in dem von Antonio verwirklicht. Aber was ist aus Antonio geworden? Ist er tot? Hat er eine neue Identität angenommen? Oder lebt er im hoffnungslos überfüllten Castel Volturno als Namenloser unter Tausenden von afrikanischen Migranten?
Schweizer Literatur 🇨🇭
Der verschwundene Mond
von Zoe Jenny, S 150
Als Leiter des Astronomischen Instituts von Wien dreht sich Martys Leben um die Beschäftigung mit den Weiten des Universums. Die wirkliche Welt schiebt er darüber gerne beiseite, dass seine Frau Marlene bereits insgeheim von einem Leben auf Bali tràumt und seine Tochter an ihrem Frausein zweifelt, bleibt ihm verborgen. Nach einem Kongress trifft er auf den Psychoanalytiker Steindorfer, der ihn fragt, warum der Mensch eigentlich mehr über ferne Planeten wisse als über das eigene Bewusstsein, und gibt ihm daraufhin sein Manuskript. Nachdem Marlene nach Bali und Stella an den Atlantik gereist sind, findet Marty im Zimmer seiner Tochter eine Männerperücke. Wie viel weiss er wirklich über seine Frau und seine Tochter? Er erinnert sich an Steindorfer und beginnt, dessen Manuskript zu lesen, das ihn völlig verstört. Er ahnt nun, dass er über seine Sterne sein Leben vergessen hat. In einem letzten Aufbäumen beschliesst er, nach Bali zu fliegen.